Manuelle Medizin
Die menschliche Hand mit ihrer vollendeten Harmonie sensorischer und motorischer Fähigkeiten ist sicherlich der Ausgangspunkt diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen.
Von Univ.-Prof. Dr. Hans Tilscher
Die Manuelle Medizin ist so alt wie die Geschichte der Menschheit.
Das deutsche Wort „behandeln“ basiert auf dem Wort „Hand“, lateinisch – manus (Manuelle Medizin), griechisch – chiros (Chirotherapie).
In den ältesten Aufzeichnungen finden sich bereits Hinweise für manuelle Aktivitäten.
Im vorigen Jahrhundert war es der Schweizer Otto Nägeli, der Grifftherapie praktizierte, in Amerika Andrew Still, der die Osteopathie begründete und der Gemischtwarenhändler David Palmer, der die Chiropraktik entwickelte.
In Europa
Nach dem 2. Weltkrieg waren es vor allem niedergelassene Ärzte, welche genial die Manuelle Medizin wieder entdeckten und entwickelt hatten, wie G. Gutmann, HD.Wolff, K. Sell, die Engländer Stoddard, Menell und Cyriax und die Franzosen Maigne mit den Krankengymnasten Evjient und Kaltenborn.
Die Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates sind die häufigste Schmerzursache der Menschen in den Industrieländern, 2/3 davon sind Wirbelsäulenbeschwerden.
Das wichtigste Symptom dieser Beschwerden ist der Schmerz, der primär ein Warner ist, dass die Integrität des menschlichen Körpers gestört ist, es gibt aber auch Schmerzen als Geisel, wie den chronifizierten Schmerz, den neuropathischen oder den Karzinomschmerz.
Schmerzen treten bei Strukturzerstörungen auf (Pathomorphologie: Röntgen – Laborbefund), aber auch und besonders bei Strukturstörungen, bei welchen die Ursache der Erkrankung weder durch das Labor noch durch das Röntgen erkannt werden kann.
Die postpromotionelle Ausbildung von Ärzten und Ärztinnen findet in Spitälern statt, in welchen bekannterweise Menschen mit schweren pathomorphologischen Veränderungen zur operativen Rekonstruktion vorstellig werden.
In der niedergelassenen Praxis werden diese ÄrzteInnen mit Krankheitsbildern konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet sind.
Dadurch entsteht ein großes Defizit bei der Betreuung zahlloser Patienten, die an Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates erkrankt sind.
In einer von uns gegründeten Abteilung für Konservative Orthopädie in Wien, die von uns 32 Jahre geleitet wurde, zeigte sich sehr bald, dass für die Erfassung der Krankheitsbilder die manuelle klinische Untersuchung unverzichtbar ist, die auch bei pathomorphologischen Befunden zur Beurteilung des Krankheitswertes einer Veränderung eingesetzt werden muss.

Von der Österreichischen Schule für konservative Orthopädie und Manuelle Medizin wird deshalb allen Medizinern, welche sich mit Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates beschäftigen (Allgemeinmediziner, Orthopäden, Rheumatologen, Physikalische Mediziner, Algesiologen), empfohlen, die klinisch manuelle Untersuchung zu erlernen und diese durchzuführen.
Die Manuelle Medizin, die neuro-muskulo-skelettale Medizin besteht aus der Manuellen Diagnostik und der Manuellen Therapie, weiters aus der Sekundär- und Tertiärprävention.
Die klinische Untersuchung sucht nach kritischen Details, die in ihrer Kombination die nosologische Einordnung von Krankheitsbildern ermöglichen (Strukturanalyse) und in der Feststellung der die Beschwerden dominierenden schmerzreflektorischen Äußerungen (Aktualitätsdiagnose).
Dazu gehören neben den lokalen Schmerzen, der radikuläre Schmerz, der referred pain (dolor translatus – Dermatom), die pseudoradikuläre Symptomatik (Myotom) mit den Tonusveränderungen in den Muskeln und den Triggerpunkten, schließlich sympathische Aktivierungen mit deren Äußerungen auf die Durchblutung und die Schmerzschwelle. Diese neuromuskuloskelettalen Reaktionen können das Beschwerdebild dominieren (pathogenetische Führungsstrukturen) und müssen zur Indikation spezieller therapeutischer Strategien diagnostiziert werden.
Die klinische Untersuchung umfasst die Anamnese, die Inspektion, Tastpalpation, Schmerzpalpation, die Provokationsteste, die Funktionsuntersuchung, die Probebehandlung, die technische Befunderhebungen.
Der Manuellen Diagnostik gegenüber zu setzen ist die Manuelle Therapie.
Bei morphologischen Veränderungen (Zerstörungen) muss die anatomische Rekonstruktion überlegt werden.
Bei der Behandlung von schmerzhaften Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates gibt es entsprechend der Aktualitätsdiagnose folgende Strategien:
Der Bewegungsapparat ist für Druck- und Dehnungsreize programmiert. Manuelle Therapieformen bedienen sich daher physiologischer Reizqualitäten.
Bei akuten Beschwerden ist es der (Schmerz) Reizabbau, durch die Ruhigstellung, durch Medikamente, durch die Kältetherapie und durch die Anwendung von Lokalanästhetika.
Der Einsatz der Hand erfolgt hier zum Reizabbau, z.B. durch die dreidimensionale Traktion.
Die Behandlungstechniken der gestörten Muskelfunktionen sind vielfältig.
Bei der Therapie chronischer Schmerzen ist das Setzen von Reizen über die Rezeptoren der Haut, der Muskulatur, aber auch der Gelenke mit deren schmerzinhibitorischer Wirkung (gate controll theory nach Melzack and Wall), ein Prinzip, das für die meisten nichtmedikamentösen Behandlungsformen gültig ist und deren Auswahl ebenfalls nach den Ergebnissen der Aktualitätsdiagnose erfolgt.
Zu den Techniken der Reizsetzung über die Haut gehört das Streichen und Rollen. Die Manuellen Therapie über die Muskulatur bietet eine Fülle von Techniken, die mit ihren mechanischen Reizimpulsen auch die schmerzhemmenden deszendierenden Signale aus der Gegend des zentralen Höhlengrau zu aktivieren imstande sind.
Von Bedeutung ist die Manuelle Reizsetzung auf die reichlich vorhandenen nervösen Strukturen der Gelenke. Dies erfolgt mittels der Mobilisation, der Manipulation, aber auch gewisser heilgymnastischer Maßnahmen, einer der Übergänge zur Sekundärprävention.
Erwähnt werden müssen bei chronischen Beschwerden auch Methoden der physikalischen Therapie, die Mechanotherapie, Elektrotherapie, Thermotherapie, Balneotherapie, die ebenfalls das neuromuskuloskelettale System beeinflussen. Die Rehabilitation, d.h. die Erkennung und Beeinflussung von allen Störfaktoren, die krankmachen, wobei hier die statische, dynamische und psychische Fehlbelastung zu nennen ist, beeinflusst die Therapieresistenz und die Rezidivneigung.
Die Zukunft der Manuelle Medizin scheint vorhersehbar, vorausgesetzt man verlässt ihre rein mechanistische Betrachtungsweise und nützt die Denkmodelle der Neuropathologie. Leben ist Reiz und Reizbeantwortung, wie dies im Bewegungsapparat mit seiner zusätzlichen Aufgabe als Sinnesorgan (Sensomotorik) in seiner Normalfunktion zu erkennen ist und das Verstehen der Erkrankungen in ihren Dys(hyper/hypo) Funktionen verbessert.
Die Manuelle Medizin ist unverzichtbar, besonders in der Diagnostik, aber auch in der Therapie einer der häufigsten Erkrankungen des Menschen.
Es wird allerdings davon abhängen, ob sich die Medizin durch ihr Denken in die Pathomorphologie in die Spitäler zurückzieht, um hier rein chirurgisch tätig werden, wodurch nicht ärztliche Therapeuten diesen Bedarf an medizinischer Betreuung übernehmen werden.
Univ. Prof. Dr. Hans Tilscher,
Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin,
www.manuellemedizin.org
Gesundheitsaktion SOS Körper,
Rehaklinik Wien Baumgarten,
Reizenpfenninggasse1, 1140 Wien,
www.soskoerper.at