Der falsch bewegte Bewegungsapparat – Schmerzursache Nr. 1

Von Univ.Prof. Dr. Hans Tilscher

Die häufigste Schmerzursache des Menschen sind Störungen des Stütz- und Bewegungsapparates und hier wieder sind es in dreiviertel der Fälle Wirbelsäulenerkrankungen.

Dem Schmerz kommt dabei eine wichtige Funktion als Warner zu, dass die notwendigen Funktionen des Bewegungsapparates bedroht sind, oft lange bevor im Röntgen feststellbare gestaltliche Veränderungen als das Substrat der Beschwerden beobachtet werden können.

Der Schmerz ist einer der wichtigsten Gründe, den Arzt aufzusuchen

Die Häufigkeit dieser Erkrankungen, die für den einzelnen wegen der Schmerzen, der verringerten Belastbarkeit und der eingeschränkten Beweglichkeit sowohl das Berufsleben, wie das Privatleben beeinträchtigt, wird und ist für den Staat ein allmählich nicht mehr finanzierbares Problem. Sie kann durch folgende Zahlen, den Krankheitsort „Wirbelsäule“ betreffend, unterstrichen werden.

Volkskrankheit Rückenschmerz

Gut 85% der Bevölkerung der Industrienationen hatten schon mindestens 1 Mal im Leben Beschwerden. Derzeit haben 30% bis 40% der Menschen Rückenbeschwerden. Bei belasteten Gruppen liegt die Jahresprävalenz, also das Auftreten innerhalb eines Jahres bei 65%.

Für Österreich sind die Zahlen ebenfalls sehr eindeutig. Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates stehen bei den Ursachen für Krankenstandsfälle an zweiter Stelle. Sie sind, mit 44,5%, die häufigste Ursache für Neuzugänge bei Pensionen oder geminderten Arbeitsfähigkeit bzw. der dauernden.

Diese beeindruckenden Zahlen gewinnen obendrein noch an Bedeutung, wenn man bei den Wirbelsäulenerkrankungen die einzelnen Krankheitsarten untersucht. So zeigt sich, dass bei maximal 15% der Erkrankten die Ursachen für die Beschwerden durch die bildgebenden Verfahren oder durch labormäßige Untersuchungen nachgewiesen werden können. Bei 85% der Erkrankten handelt es sich um so genannte unspezifische Wirbelsäulenstörungen. Die bei den so genannten unspezifischen Wirbelsäulenbeschwerden oft zu beobachtenden intensiven und chronifizierten Beschwerden können nur durch eine exakt zu erhebende Anamnese zusammen mit einer klinischen, d.h. manuellen Untersuchung von Art und Ort der Störungen abgeklärt werden. Da die so genannten klinischen Untersuchungen durch die Apparategläubigkeit der Medizin nicht mehr gelehrt und dadurch meistens nicht gekonnt werden, werden die betroffenen Patienten nicht selten unter den verschiedenen Diagnoseprovisorien wie Bandscheibenschaden, Muskelrheumatismus, Abnützung, etc. einer rein spekulativen Therapie unterzogen, die nicht immer effizient ist.

Die übliche Schuldzuordnung der Beschwerden durch Abnützungen bedingt zu werden, ist nicht immer berechtigt.

Man kann durch eine Hochrechnung annehmen, dass bei einer Punktprävalenz von 40% derzeit etwa 2 Mio. Österreicher unter Wirbelsäulenbeschwerden leiden, wobei man bei 1,7 Mio. nicht genau weiß warum

Eine Fülle von Ursachen

Wie bei vielen anderen Erkrankungen müssen besonders bei den vorliegenden Wirbelsäulenstörungen eine Fülle von Ursachen angenommen werden, die in ihrer Summation den Menschen krank machen:

  • Die statische Fehlbelastung
  • Die dynamische Fehlbelastung
  • Die psychische Fehlbelastung

Der Mensch hat sich in seiner Evolution zu einem Wesen entwickelt, dass sich durch seine Geschicklichkeit und Schnelligkeit behaupten und weiterentwickeln konnte. Tausende von Jahren war er mit einer kleinen Sippe (mehr konnte das vorhandene Areal nicht ernähren) ständig in Bewegung, um Essbares zu finden, um zu flüchten, sich zu verstecken, oder anzugreifen.

Nach der letzten Eiszeit etwa 10.000 v. Chr.  entstand der Anbau des Getreides, eine Voraussetzung zur Ernährung eines großen Kollektivs, d.h. die Möglichkeit zur Stadtentwicklung. Gott wird sich wahrscheinlich dabei etwas gedacht haben, als er das Getreideopfer des Kains abgelehnt hat. Die bestehende Gesellschaft mit den sich entwickelnden verschiedensten Aufgaben und Berufen engte im Alltag die Mobilität der Menschen immer mehr ein, viele der Berufe mussten im Sitzen oder Stehen durchgeführt werden, und allmählich begann die Entwicklung, die heute als besonders schicksalhaft angesehen werden kann, nämlich die größere Bewertung von mentalen als von körperlichen Fähigkeiten.

Mit dem Eintritt in die Schule wird sitzend – die Gesellschaft kann keine Unruhe vertragen – gelernt, später werden sitzend die Früchte dieser Ausbildung zum „Broterwerb“ verwendet.

Das Abendland hat sich dabei zu einer etwa kniehohen Sitzhöhe entschieden (wo anders wird das Gesäß von den Fersen in der Hocke oder im Knien unterstützt; im Türkensitz ruht das Gesäß auf dem Boden).

Die Ökonomie des Körpers reagiert bei verringertem Gebrauch eines Organs mit seiner Rückbildung. So liegt eine Gefahr im längeren Sitzen, das heißt im Nicht-bewegen, in einer Minderung der Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems, weiters aber auch bei den dieses System unterstützenden anderen Organkomplexen. Für den Bewegungsapparat bedeutet das längere Sitzen vor allem eine Veränderung des muskulären Verhaltens. Der Hüftknick lässt den Hüftbeuger verkürzen, den sog. M. psoas, vom Wiener beim Rind als Lungenbraten, eigentlich „Lumbenbraten“ bezeichnet, es verkürzen sich die Muskeln des hinteren Oberschenkels, der große Brustmuskel, der absteigende Trapezius (Kapuzenmuskel), und viele andere Muskeln, die zur Funktionsgemeinschaft der posturalen Muskeln gehören, ein Muskelsystem, dass beim aufrecht stehenden Menschen ständig tätig, sein Stürzen verhindert. Andererseits werden die beim Zivilisationsgeschädigten weniger aktivierten Muskeln, so etwa die Gesäßmuskulatur, die Bauchmuskulatur, die Halsbeuger, um nur einige aus der Gruppe der sogenannten phasischen Muskeln zu nennen, einem Muskelsystem, das die Aufgabe der raschen geschickten Bewegung hat, durch ihren vernachlässigten Gebrauch abgeschwächt, darüber hinaus von ihrem Gegenspieler, der verkürzten posturalen Muskulatur, neurologisch sogar gehemmt.

Durch die Änderungen dieser Muskelbalance, aber auch durch fehlerhaftes Sitzen und Stehen, geraten die einzelnen Wirbelsäulenbewegungssegmente in eine Stellung außerhalb der Mittelstellung, was eine Fehlbelastung aller Strukturen dieses Segmentes bedeutet (Bandscheiben, Gelenke), aber auch Grund ist für die ersten Schmerzreize. Es entsteht die Fehlhaltung.

Die dynamische Fehlbelastung

Monotone immer wiederkehrende Bewegungsabläufe fungieren als Grund für Fehlbelastungen von Muskeln, ihren Ansätzen und Gelenken. Es sei hierbei an Arbeitsplätze erinnert, wie z.B. die Fliesbandarbeit, Sitzkassiere/innen. Es muss allerdings auch der Sport erwähnt werden, der vor allem bei mangelhafter körperlicher Vorbereitung, fehlerhafter Technik und bei zu intensiver Durchführung zu einer krankmachenden Gefahr werden kann.

Die psychische Fehlbelastung

Im Bauplan des Menschen ist es auch sicherlich nicht vorgesehen, einer Fülle von gewollten, mehr aber von ungewollten Informationen ausgesetzt zu werden, auf die aber unwillentlich reagiert wird. Es entstehen immer wiederkehrende Stresssituationen, die in seinen Genen liegende Angriff oder Abwehrreaktionen aktivieren, – sei es durch Blutdruckerhöhung, sei es durch Anspannen der Muskulatur.  Es sind hier vorwiegend die Muskeln der oberen Körperhälfte, die auch als psychische Erfolgsmuskeln zu gelten haben, die bei ihrer Daueranspannung eine Schmerzursache darstellen. Es ist aber auch die Verarmung der Überträgersubstanzen, die seelische Überlastungssyndrome angehen lassen, mit Schlaflosigkeit, vegetativen Störungen, vor allem mit einer Herabsetzung der Schmerzschwelle.

Wie kann man Beschwerden vorbeugen?

In vielen Fällen bedeutet die Behandlung ein Wegschaffen der beschwerdeverursachenden Symptome, aber sicherlich keine kausale Beeinflussung der krankmachenden Faktoren.

Der Schwerpunkt des Agierens wird nun vom Arzt auf den Patienten verschoben, der von einem Behandlungsobjekt ein Subjekt wird, das durch eigenständiges Handeln alle krankmachenden Faktoren zu verhindern versucht.

Diese Prävention kann man in seinen Aufgabenbereich dreiteilen:

  • Primärprävention
    Maßnahmen bei bisher beschwerdefreien Menschen (Kinder, Jugendliche)
  • Sekundärprävention
    Maßnahmen durch Menschen die schon einmal Beschwerden gehabt haben
  • Tertiärprävention
    Maßnahmen bei Menschen, die Beschwerden haben und Auslöser oder stärkere Beschwerden beeinflussen wollen.

Bei der Prävention können durch Heilgymnastik folgende Strategien berücksichtigt werden:

  • das Dehnen von verkürzten Muskeln,
  • das Kräftigen von phasischen Muskeln,
  • die Erhaltung oder die Wiedergewinnung der Beweglichkeit,
  • die Korrektur von falschen Bewegungsabläufen.

Die heilgymnastischen Übungen können nur durch die Kontinuität ihres Ausführens wirken, d.h. täglich kurz – aber bis ans Lebensende.

Die Ordnung im Umfeld

Das Wissen um die krankmachende Wirkung falscher Sitzmöbel, inadäquater Betten, schlechter Autositze, Klimaanlagen, sportlicher Betätigungen erfordert Maßnahmen, die durch ihre einmalige Aktualisierung kaum berücksichtigt werden. Sie müssen schulisch, d.h. durch ständiges wiederholen automatisiert werden, um sogenannte Rückfälle ins „Falsche“ zu vermeiden.

Dazu gehören die Probleme:

  1. Stehen
  2. Gehen
  3. Setzen
  4. Sitzen
  5. Liegen
  6. Sport 
  7. Psychohygiene
  8. Wohnung, Auto, etc.

Aufgrund von wissenschaftlichen Untersuchungen sind präventive Aktivitäten, die im Rahmen von Wirbelsäulen-Schulen erfolgen zielführend und könnten die wichtigsten Maßnahmen gegen die zur Volkskrankheit gewordenen Wirbelsäulenbeschwerden werden.

Univ. Prof. Dr. Hans Tilscher,
Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin, 
www.manuellemedizin.org    
Gesundheitsaktion SOS Körper,
Rehaklinik Wien Baumgarten,
Reizenpfenninggasse1, 1140 Wien, 
www.soskoerper.at