Der Bewegungsapparat

Die Wirbelsäule ist das Zentrum des Bewegungsapparates. Sie stützt unsere aufrechte Haltung und dient als Ausdrucksorgan seelischer Vorgänge. Das Gesamtsystem ist aber in allen strukturellen und funktionellen Einzelbereichen störbar. Um mit Sport nicht der Wirbelsäule zu schaden sind ein paar Dinge zu beachten.

Von Prim. Univ. Prof. Dr. Hans Tilscher

Wirbelsäule und Muskulatur aus anatomischer Sicht

Die Wirbelsäule erscheint in der Seitenansicht als doppel-s-förmiges Gebilde. Diese spezielle Ausformung erfüllt die Funktion eines natürlichen Stoßdämpfers.

Wirbelsäule

Sie kann in 4 Regionen aufgegliedert werden:

Halswirbelsäule mit 7 Halswirbel (HWS)

Brustwirbelsäule mit 12 Brustwirbel (BWS)

Lendenwirbelsäule mit 5 Lendenwirbel (LWS)

Kreuz-Steißbeinregion.

Die einzelnen Wirbel sind ab dem zweiten Halswirbel bis zum Kreuzbein durch elastische Bandscheiben getrennt und stehen mittels paariger kleiner Wirbelgelenke untereinander  in beweglicher Verbindung. Die mit den Wirbelkörpern verschmolzenen rückwärts gelegenen Wirbelbögen enden in Dornfortsätzen und bilden in ihrer Summe einen Kanal, in dem, von Rückenmarkshäuten geschützt, das Rückenmark verläuft. Über seitliche Zwischenwirbellöcher verlassen die vom Rückenmark ausgehenden paarigen Nervenwurzeln unter weiterer Aufteilung die Wirbelsäule und ziehen zu ihren Bestimmungsstrukturen.

Bandscheiben und Gelenke erlauben die vorgegebene  Bewegungsmöglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenregionen, wobei der Bewegungsspielraum zwischen den Einzelwirbeln relativ gering ist. Die Bänder und die Gelenkkonstruktion beschränken andererseits das Bewegungsausmaß so weit, dass der Schutz des Rückenmarks gewährleistet bleibt, und erfüllen somit eine Tresorfunktion.

Ein komplexes Muskelsystem aus langen und kurzen Muskeln, die sogenannten autochthone Muskulatur, bildet paarig neben der Wirbelsäule verlaufend vom Kreuzbein bis zum Hinterhaupt reichende Muskelstränge, die in ihrer Gesamtheit als Rückenstrecker (M. erector trunci) bezeichnet werden.

Aufgaben der Wirbelsäule

Fasst man die vielfältigen Aufgaben der Wirbelsäule zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Die Wirbelsäule dient

  • als Zentrum des Bewegungsapparates (Achsenorgan),
  • als Stütze der aufrechten Haltung,
  • zur Vermittlung von Körperbewegungen,
  • als Schutz für Rückenmark, Nervenwurzeln und Blutgefäße (Tresorfunktion),
  • als Organ der Haltungs- und Bewegungsorientierung (Nervenfühler in den Wirbelbogengelenken, Bändern und Muskeln),
  • als Effektor der optischen und akustischen  Zuwendung („den Blick wenden“, „hinhören“),
  • als Ausdrucksorgan seelischer Vorgänge („den Kopf hängen lassen“, „den Kopf einziehen“, „halsstarrig“, „von Kummer gebeugt“).

Das Gesamtsystem ist in allen strukturellen und funktionellen Einzelbereichen störbar.

Bandscheibenschaden und Bandscheibenprolaps

Die jeweils zwischen zwei Wirbeln liegenden und die Wirbelkörper trennenden elastischen Bandscheiben wirken als Puffer und sind für die Beweglichkeit der Wirbelsäule mitbestimmend. Sie bestehen aus einem äußeren Faserring und einem inneren Gallertkern. Ihre Ernährung erfolgt nicht über Blutgefäße, sondern durch Aufsaugen von Nährstoffen aus Nachbargeweben. Dies geschieht in entlasteter Position (z.B. im Sitzen oder während des Schlafs) besonders intensiv.

Ernährungsstörungen und Belastungseinflüsse machen den Bandscheibenapparat degenerationsanfällig. Dabei verändern sich die Strukturen. Der ursprünglich weiche innere Gallertkern trocknet aus, und der äußere Faserring wird dünner und rissig. Die Bandscheibenhöhe nimmt ab. Dadurch gerät die Abstimmung zwischen dem Innendruck der Bandscheibe und der äußeren Gegenspannung mittels Wirbelsäulenbänder aus dem Gleichgewicht. Die Folgen äußern sich in Form von Instabilität sowie Osteochondrose und Spondylose (gewebliche Reaktionen, die zu Bandscheibenschaden und Längsbänderverkalkung führen). Dieser an sich normale Alterungsvorgang begünstigt bei Belastungsspitzen (Heben, Tragen, abrupte Bewegungen) plötzliche und gravierende Rissbildungen des Faserringes bei gleichzeitigem Prolaps (Vorquellen von Gallertkern und Faserringanteilen). Erfolgen Rissbildung und Prolapsentwicklung im rückwärtigen Bandscheibenanteil, so können vorquellende Prolapsmassen die dort situierten Nervenwurzeln treffen und akuten Schmerz auslösen (Ischias).

Spondylolisthesis (Wirbelgleiten)

Obwohl beim Wirbelgleiten eine strukturelle Schädigung vorliegt, lassen bei leichten Fällen die damit verbundenen Beschwerden eine Einordnung in die Gruppe der gestörten Funktion zu. Das Wirbelsäulengleiten wird meist durch eine Spaltbildung im Zwischengelenkstück zweier Wirbel verursacht. Das Bewegungssegment zwischen 5. Lendenwirbel und Kreuzbein ist am häufigsten betroffen (2/3 aller Fälle).

Beschwerden treten vor allem dann auf, wenn gestörte Funktionen des Gleitsegmentes auf darüber liegende Segmente oder auf die Kreuzdarmbeingelenke übertragen werden, diese überlasten und somit Reizerscheinung im Band- und Muskelapparat aufbauen. Überbelastungen forcieren die bestehende Gleitneigung, darauf muss in der Berufs- und Sportberatung eingegangen werden.

Psychosomatisch bedingte Wirbelsäulensyndrome

Die Verknüpfungen zwischen Psyche und Wirbelsäule kommen im täglichen  Sprachgebrauch häufig mit äußerst bildhaften Beschreibung zum Ausdruck.

Idiome wie „vom Kummer gebeugter Rücken“ oder „hocherhobenen Hauptes“ zeigen nur eine kleine Auswahl der gebräuchlichsten Formulierungen auf, die die Beziehungen der Psyche zur Haltung und Wirbelsäulenformung vermitteln. Alle Abweichungen von der individualtypischen Haltung, die mit der Verschiebung der Wirbelgelenkstellungen aus der spannungsarmen Mittellage heraus einhergehen, bringen eine vermehrte Belastung und muskuläre Haltearbeit mit sich.  Ein Andauern dieser Situation führt schließlich zu Beschwerden. Darüber hinaus erfolgt eine emotionale Beeinflussung der zentralen Mechanismen im Gehirn, die an der Steuerung  der Muskelgrundspannung beteiligt sind. Sie beteiligen sich ebenfalls an der Somatisierung psychischer Störungen („Verkörperlichung“). Mitursache ist die Sympathikusaktivierung, die eine generelle Senkung der Schmerzschwelle auslöst.

Augenfällig und häufig sind starke Verspannungen im Trapezmuskel („psychischer Kennmuskel“).

Speziell das Krankheitsbild der depressiven Verstimmung neigt zur Ausbildung von Somatisierungen im Bereich des Bewegungsapparates und führt zur Panalgesie (vielfache Schmerzregionen).

In der Entwicklung der psychische bedingten Wirbelsäulenbeschwerden liegt die Gefahr diagnostischer Irrtümer. Biologische Abläufe zeichnen sich schließlich dadurch aus, dass sie keinem „Einbahnstraßenbetrieb“ unterliegen. In gleichem Maße wie Depressionen die Entstehung von Wirbelsäulenbeschwerden nach sich ziehen können, haben funktionell bedingte chronische Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates häufig depressive Verstimmungen zur Folge.

Nur ein diagnostisches Vorgehen, das sowohl röntgenologisch als auch orthopädisch (unter Einschluss der manualmedizinischen segmentalen Funktionsprüfung) und psychiatrisch ausgerichtet ist, sichert gegen Fehldiagnosen ab. Denn Normalbefunde im Röntgenbild der Wirbelsäule sprechen nicht gegen rein körperlich bedingte Schmerzen; umgekehrt dürfen ausgeprägte Degenerationszeichen echte Depressionen nicht ausschließen. Dies bedeutet:

Das Röntgenbild bietet für sich alleine keine Entscheidungshilfe.

Osteoporose

Unter den verschiedenen Formen der Osteoporose ist jene, die als Involutionsosteoporose bezeichnet wird, am bedeutungsvollsten. Betroffen sind zumeist Frauen ab dem Klimakterium. Die Entmineralisierung der Wirbelkörper und deren dadurch bedingte Verminderung der Festigkeit und Verformung führen zum Kleinerwerden der Patientinnen sowie zur Ausbildung eines deutlichen Rundrückens. Die so entstehende Verformung der Wirbelsäule erfordert erhöhte muskuläre Haltearbeit, die ihren Ausdruck in einer hochgradigen  Verspannung der Rückenstrecker findet. Neben akuten Wirbelkörpereinbrüchen sind es vor allem die muskulären Reizzustände, die den Schmerzverlauf bestimmen.

Rheuma und Gicht

Bei den rheumatischen Erkrankungen unterscheidet man im Wirbelsäulenbereich zwischen den tatsächlich entzündlichen rheumatischen Veränderungen, wie dem M. Bechterew und den sog. degenerativ rheumatischen Erkrankungen, Beschwerdebilder, die vor allem durch schwere Abnützungserscheinungen mitverursacht werden.

Die Gicht hat im Gegensatz zu den Großzehengelenken und den Kniegelenken im Wirbelsäulenbereich weniger Bedeutung.

Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen

Immer wieder werden bestehende Wirbelsäulenbeschwerden mit auf Röntgenaufnahmen nachweisbaren Degenerationssymptomen wie Spondylosen, Spondylarthrosen oder Osteochrondrosen in unmittelbaren Zusammenhang gebracht, als krankheitsentscheidend angesehen und mit unterschwelliger therapeutischer Resignation bedacht. Sie ist allerdings nicht angebracht. Sogenannte degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule sind normale Alterungsvorgänge, Ausdruck der Belastungsverarbeitung und teilweise Selbststabilisierungsversuche des Organismus, aber keine Krankheit an sich.

Bestehende Beschwerden müssen daher auf ihre tatsächlichen Ursachen, d.h. auf die ge- bzw. zerstörten Funktionsbereiche hin abgeklärt werden (Prüfung der Gelenkfunktion, Bänder, Muskulatur; entzündliche Prozesse, usw.). Wirklich hochgradige Veränderungen an den Bandscheiben und am Gelenkapparat der Wirbelsäule können allerdings, insbesondere im fortgeschrittenen Alter, auch als krankheitsbegünstigende Faktoren in Betracht gezogen werden (osteochondrotische Instabilität, Einengung des Rückenmarkkanals, usw.). Stets aber  ist der Funktionsausfall der hauptsächliche Störungsfaktor.

Vermeidung von Sportschäden

Damit die Ausübung einer Sportart tatsächlich der Erhaltung der Gesundheit dient und nicht zu Schädigungen führt, sind denjenigen, die in ihrer Freizeit mehr oder weniger regelmäßig Sport treiben, folgende Anleitungen zu geben:

  • Vernünftige Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsvermögens: die Einstellung, nicht unbedingt den Sieg erringen zu müssen.
  • Mindestmaß an technischem Können: die Bewegungen sollten locker und spielerisch ablaufen.
  • Vorbereitung auf die Sportart durch Aufwärmen: es dient als eine den Bewegungsapparat schonende Startphase.
  • Vermeidung ruckartiger Bewegungsabläufe mit großen Bewegungsexkursionen der Wirbelsäule: richtige Sportwahl !!
  • Vermeidung von Zugbelastungen, Dauerverspannung und Unterkühlung: Schmerzen berücksichtigen !
  • Sportarten, die in der Jugend erlernt wurden, sind bis in das hohe Alter ausführbar – vor allem Ausdauersportarten.
  • Für junge Menschen sind Sportarten geeignet, die die Schnellkraft trainieren. Den Senioren sind Sportarten zu empfehlen, die eine Ausdauerleistung erfordern.
  • Ältere Sporttreibende sollten bedenken, dass ihre Beweglichkeit und Koordinationsfähigkeit mit zunehmendem Alter abnehmen.

Diese Einsicht bewahrt vor Schmerzen und Unfälle.

Univ. Prof. Dr. Hans Tilscher,
Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin, 
www.manuellemedizin.org    
Gesundheitsaktion SOS Körper,
Rehaklinik Wien Baumgarten,
Reizenpfenninggasse1, 1140 Wien, 
www.soskoerper.at